Günther Selichar - Hotel Nikko, Paris
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Iris-Inkjet-Print auf Vélin cuve BFK Rives 250 g
29 x 72,6 cm, 1993/1996
nummeriert und handsigniert
Auflage: 25 + III
Preis: bereits ausverkauft
Beschreibung
Der Autor Robert C. Morgan wählte für einen Text über die Arbeit Günther Selichars einen Satz von Hans Arp zum Motto: "Die Vernunft hat den Menschen von der Natur abgeschnitten." Günther Selichar hat als fotografisches Ausgangsmaterial für die vorliegende EDITION EIKON die Fassade des Pariser Hotels Nikko gewählt (1976, von Cabinet Lebail & Penven, Paris). Die japanische Hotelkette, die es betreibt, hat für seinen Namen die Tempelstadt Nikko gewählt, die buddhistische Tempel aus dem 8. Jahrhundert und shintoistische Schreine aus dem 17. Jahrhundert unserer Zeitrechnung in sich vereint. Bekanntlich ist der Shintoismus ein Staatskult, der auf sehr diesseitsbezogene, animistische Vorstellungen von der Seele und der Natur zurückgeht, die weitaus älter sind als der auf ein Dasein nach dem diesseitigen Leben gerichtete Buddhismus. Die Japaner verstanden es sehr früh, solche gegensätzlichen religiösen Vorstellungen miteinander zu verschmelzen, indem buddhistische Gottheiten als Erscheinungen des Shinto interpretiert wurden. So ließ (religiöse) Vernunft Mensch und Natur zueinander finden.
Davon wußte Selichar jedoch nichts, als diese eigentümliche Fassade seine Aufmerksamkeit fesselte. Jedes rote Fensterfeld in der Form eines Monitors (im klassischen Seitenverhältnis 4:3) bezeichnet ein Hotelzimmer, dessen die umliegende Architektur spiegelndes Fenster in ein, den Blick richtendes, Fadenkreuz eingespannt ist. Das Bild einer Stadt in den Augen eines Hotelgebäudes. Der mögliche Blick seiner Bewohner, zurückgeworfen in den öffentlichen Raum. Keine spiegelnde Gesamtfassade, sondern abzählbare Einzelfelder, einzelne Blicke, einzelne Bilder. Der von Selichar gewählte Ausschnitt unterstützt den Eindruck der Illusion eines filmischen Ablaufs einzelner Kader. Die Vernunft des Blickes sucht sich eine ihr sinnvoll erscheinende Ordnung (Montage) der Teile im Ganzen, welches Selichar definiert hat.
Abendländische Architektur wird mit einem gewissem Anspruch auf Ewigkeit errichtet. Nicht so die hölzernen Schreine des Shintoismus, die – Bestandteil des religiösen Rituals – alle zwanzig Jahre erneuert werden. Ebenso kurzlebig und wohl gerade wegen ihrer fortschreitenden Erneuerung in unserem Bewußtsein auf Präsenz insistierend, sind die Bilder der elektronischen Medien. Gegenüber ihnen erscheint uns Architektur wie die Natur gegenüber der sich selbst stets durch Infragestellung erneuernden Vernunft. Oder ist es umgekehrt, ist der stete Wechsel, das irritierende Changieren der Bilder nicht Wesen der Natur, und zielt die menschliche Vernunft auf das überzeitlich Gültige? Wovon haben uns "die Medien" abgeschnitten, wenn uns die Vernunft von der Natur getrennt hat?
Günther Selichar ist ein Künstler, der mit seinem Werk von Anfang an Fragen gestellt hat, die auf den politischen Gebrauch eines vernunftbegabten Blickes abzielen: auf den Nationalsozialismus ("Der Frühling geht übers Land", 1987/88), auf das Verhältnis von privater und "öffentlicher" Bedeutungsebene anhand von banalem Found Footage ("Liebe macht blind", 1986/88), auf die Ideologie der Heimat ("Suchbilder", 1991/96). Von Werk zu Werk hat Selichar dabei den mediendiskursiven Ansatz seiner Arbeit prononcierter thematisiert, bis er mit "Sources", abgeschlossen 1995, scheinbar wieder zu den einfachen fotografischen Bildern zurückkehrt. Die langen Reifezeiten der einzelnen Werkgruppen überschneiden einander jedoch und können als Ausdruck einer grundsätzlichen künstlerischen Haltung verstanden werden, die von der vorliegenden Arbeit parabelhaft beschrieben wird: Das vorliegende Blatt für die EDITION EIKON, als Ergebnis dieser Arbeit an einer Haltung, ist eine Metapher für jenen vernunftbegabten Blick, der Selichars Zugang zur Wirklichkeit und zur Kunst auszeichnet.